Editorial von Geshe Thubten Ngawang
Liebe Mitglieder und Freunde,
Zu Beginn des bevorstehenden Jahres 1990 möchte ich dem Programm des ersten Quartals wie immer einige Worte vorausschicken: Viele von Ihnen haben sich in der Zwischenzeit für das Zentrum mitverantwortlich gezeigt. Ihnen allen - dem Vorstand, den Mitgliedern, den Förderern, den internen und externen Studien- und Seminarteilnehmern, den Kassetten-Abonnenten und den vielen anderen Menschen, die eine Beziehung zum Zentrum haben, möchte ich meine besten Grüße und Wünsche zum bevorstehenden Weihnachts- und Neujahrsfest übermitteln. Von ganzem Herzen begleiten Sie meine Gebete für einen frohen Geist, Gesundheit und die Erfüllung all Ihrer Wunsche im Neuen Jahr.
Durch das Zusammenkommen vieler günstiger Umstände hat sich das Zentrum von Jahr zu Jahr stetig verbessert: die Verantwortlichen sind ihrer Verantwortung nachgekommen, die Praktizierenden haben praktiziert, die Studierenden studiert und die Förderer haben die notwendigen materiellen Bedingungen bereitgestellt oder ehrenamtlich mitgearbeitet. So sind also die bisherigen Fortschritte auf Ihre gemeinsamen Bemühungen zurückzuführen, an die ich hier noch einmal erinnern möchte und für die ich Ihnen herzlich danke. Es liegt in der Natur des abhängigen Entstehens, daß sich das Zentrum nur dann so gut wie bisher weiterentwickeln wird, wenn auch allen Seiten getragen wird. Deshalb möchte ich Sie bitten, so gut weiterzumachen wie bisher. in Zukunft die Verantwortung von
Wenn man so viel es geht aus einer Einstellung heraus handelt, die auf das Wohl der Gesellschaft und der anderen gerichtet ist, wird man dadurch ganz sicher sowohl für sich selbst als auch für andere einen Nutzen bewirken können. In den Worten unseres Lehrers (des Buddha) wird viel über Karma und seine Wirkungen und die Gesetzmäßigkeit des subtilen abhängigen Entstehens des Inneren (des Geistes) erklärt. Es ist schwer, dieses deutlich zu erkennen, aber auch wenn wir das subtile abhängige Entstehen nicht gleich erkennen, können wir, wenn wir einen Blick auf die Weltgeschichte werfen, die gröberen Ebenen dieses Gesetzes sehen: Was wurde aus den Menschen, die sich geeignete Mittel überlegten und diese anwandten, um der Gesellschaft Nutzen zu bringen? Welche Veränderungen haben sie im Laufe weniger Jahre bewirken können? Welcher Nutzen hat sich daraus für sie selbst und für andere ergeben? Wenn wir derartige Überlegungen anstellen, wissen wir sie aus eigener Erfahrung zu beantworten. Unser Zentrum ist ein Teil der Gesellschaft. Es unterscheidet sich nur hinsichtlich der Größe von der ganzen Gesellschaft. Nützt man dem Zentrum, so nützt man auch der Gesellschaft.
Ich will versuchen, diesen Gedanken an einem groben Beispiel zu verdeutlichen: Wenn man einkaufen geht und es tut, um es sich selbst gut gehen zu lassen oder sich einfach nur einen schönen Tag zu machen, so hat das nur für einen selbst einen Nutzen. Niemand wird dankbar denken: “Oh wie gut, daß er einkaufen ging”, weil man nur für sich selbst einkaufen war. Wenn jedoch jemand für eine Gruppe von zehn oder zwanzig Personen einkaufen geht, so werden viele von ihnen nach seiner Rückkehr denken: “Ach wie gut, daß er für mich miteingekauft hat.” Im Geist der anderen wird Freude entstehen. Sie werden Sympathie für diesen Menschen empfinden und ihn als jemanden betrachten, der für sie da ist und sich mitverantwortlich fühlt. An diesem Beispiel kann man doch deutlich sehen, daß es einen Unterschied gibt, ob jemand nur für sich selbst oder für eine Gemeinschaft arbeitet. Das ist kein Beispiel für subtiles abhängiges Entstehen des Inneren, sondern ein grobes Beispiel des abhängigen Entstehens, das leicht nachvollziehbar ist.
Noch besser ist es, wenn man direkt oder indirekt behilflich ist, die Mittel des Dharma bereitzustellen und auf diesem Gebiet für eine Verbesserung der Gesellschaft sorgt. Ich denke, daß insbesondere in der heutigen Zeit der Dharma ein unübertroffenes Mittel zur Beseitigung der Probleme der Menschheit darstellt. Wir selbst und andere treffen auf viele Schwierigkeiten. Die Wurzeln für all diese Schwierigkeiten sind in unserem Geist zu finden. Um eine Veränderung im Geist zu bewirken, bedarf es entsprechend guter Ratschläge. Man braucht einen Ort, an dem beide zusammenkommen können: Ratgeber und Ratsuchender. Wenn sich solch eine Gelegenheit nicht ergibt, werden wir auch unsere Schwierigkeiten nicht beseitigen können. Beim Dharma handelt es sich um Ratschläge, die jedem von uns nützen können, Schwierigkeiten zu beseitigen. Daher steigt das Interesse am Dharma und die Zahl der Menschen, die meinen, dadurch einen Nutzen zu erfahren, immer mehr an. Ganz gleich, ob Schulen und andere Vereinigungen zu uns kommen oder ob wir zu ihnen gehen, sie alle freuen sich über die Begegnung. Der Grund ihrer Freude muß darin liegen, daß sie in der Begegnung einen Nutzen sehen.
Ob äußere Dinge Ursache für Nutzen oder Schaden sind, hängt hauptsächlich davon ab, was wir Menschen mit ihnen machen, und das wiederum hängt hauptsächlich von unserer Geisteshaltung ab. Wenn ein Mensch eine gute Geisteshaltung hat und aus dieser heraus handelt, so werden die äußeren Dinge, die er verwendet, in der Regel zu einer Ursache von Nutzen werden. Hat jemand eine schlechte Geisteshaltung, so werden auch die aus ihr resultierenden körperlichen und sprachlichen Handlungen schlecht sein. Wenn äußere Dinge von jemandem mit einer solch schlechten Geisteshaltung angewandt werden, können sie zur Ursache großen Schadens werden. Hunderte oder Tausende von Menschen, die nichts anderes wünschen als Glück zu erreichen und Leiden zu vermeiden, ja sogar ganze Völker, können dadurch großen Schaden erleiden. Das ist klar zu verstehen, nicht wahr?
Ob einer menschlichen Gesellschaft Nutzen oder Schaden wiederfährt, hängt also in erster Linie vom Denken ab. Es kommt darauf an, ob man eine gute oder schlechte Geisteshaltung hat. Ratschläge zur Entwicklung einer guten Geisteshaltung findet man hauptsächlich in den Religionen. Alle Religionen erklären, wie man eine gute Geisteshaltung entwickelt. Man kann sie nicht auf dem Wochenmarkt einkaufen, sondern muß sie selbst erzeugen, was in allen Religionen betont wird. Auf die eigene Bemühung kommt es an.
Aber auch wenn alle Religionen entsprechende Ratschläge geben, so finden sich doch nirgendwo so genaue und reine Anweisungen zur Entwicklung einer guten Geisteshaltung wie im Bodhisattvapifaka. Dort wird genau beschrieben, welche Umstande für die Erzeugung einer guten Geisteshaltung förderlich und welche hinderlich sind. Es wird erklärt, wie man Hindernisse erkennt, welche Qualitäten des Geistes man gegen sie als Gegenmittel einsetzen kann und welche Beziehung zwischen den beiden, den Hindernissen und den Qualitäten, besteht. Es wird erklärt, wie sich die verschiedenen Eigenschaften des Geistes gegenseitig schaden oder nützen und was man während der täglichen Meditationssitzungen und in den Zeiten zwischen den Sitzungen tut, um den eigenen Geist mit einer guten Geisteshaltung vertraut zu machen. All diese Vorgänge werden genauestens beschrieben. Ob man diese Ratschläge jedoch entsprechend auf den eigenen Geist anwendet oder nicht, bleibt einem selbst überlassen. Macht man den eigenen Geist nicht damit vertraut, so ist der Fehler bei einem selbst zu suchen und nicht bei einem Mangel vorhandener Ratschläge.
Die guten Anleitungen des Dharma haben ganz sicher einen großen Nutzen, nicht nur für einen, zehn oder hundert Menschen, sondern für die ganze Gesellschaft; und ich denke, daß sie deshalb auch so großen Anklang finden. Wem daher durch das Vorhandensein eines Dharma-Zentrums die Möglichkeit zur Auseinandersetzung mit der Bedeutung der Schriftkörbe der Worte des Siegers im allgemeinen und insbesondere mit dem Bodhisattvapitaka gegeben und somit ein Nutzen im Sinne des Dharma bewirkt wird, ist das etwas sehr Gutes. Denn der Dharma fuhrt langfristig zur Befreiung oder einer Stufe der Heiligkeit. Wenn ein Dharma- Zentrum dazu beiträgt und darüberhinaus auch noch einen vorläufigen Nutzen in der Gesellschaft bewirkt, so kann man sagen, dal3 der Zweck, zu dem es gegründet wurde, erfüllt ist. Das Ziel, für das man sich eingesetzt hat, indem man die notwendigen Bedingungen bereitgestellt hat, ist erreicht. Dadurch entsteht eine Situation, daß alle Menschen, die eine Beziehung dazu haben, zufrieden sind und sich daran erfreuen.
Einige von Ihnen haben sich fest vorgenommen, an der siebenjährigen Dharmalehrer-Ausbildungteilzunehmen. Nun ist es möglich, daß der eine oder andere, wenn er auf kleine Schwierigkeiten beim Studium trifft, ein bißchen müde wird. Aber eigentlich gibt es keinen Grund, müde zu werden. Ob etwas lang oder kurz andauert, ist relativ. Sieben Jahre sind nicht sehr lang, und davon ist schon mehr als ein Jahr vorüber. Sie sollten sich nicht entmutigen lassen, sondern sich nach besten Kräften bemühen zu lernen. Auch ich werde mich weiterhin nach besten Kräften bemühen, den Unterricht zu geben, und der Lehrstoff soll weiterhin übersetzt werden. Aus unserem etwa 20-jährigen Geshe- Studium wähle ich nur die wichtigsten Passagen aus. Nur die Passagen, von denen ich meine, daß man auf keinen Fall auf sie verzichten kann, werden zusammengestellt, übersetzt und an Sie weitergegeben. Sie sollten sich daher bemühen, keine Zeit zu vergeuden und den wöchentlichen Unterrichtsstoff durchzuarbeiten. Dafür, daß wir solch eine Ausbildung zum ersten Mal durchführen, denke ich, daß die’ fördernden Umstände recht gut sind, und solch eine gute Gelegenheit sollte man nicht vergeuden. Wenn Sie, so wie Sie es sich anfangs vorgenommen haben, regelmäßig mitarbeiten, werden Sie auch am Ende des Semesters keine Probleme haben, die Prüfungsfragen zu beantworten. Sie werden alle Antworten gleich parat haben. Es ist gut, durchzuhalten und eine Arbeit, die man begonnen hat, zu Ende zu bringen, und erst dann die nächste zu beginnen. Sie sollten dem Kadampa-Ratschlag (bka’ gdams pa’i man ngag) aus Atishas »Juwelenkranz des Bodhisattva« folgen (Sems dpa’i nor bu’i phreng ba; bodhisattvamanyävali), wo es heißt: “Was du zuerst begonnen hast, dies vollende auch als erstes! Darm ist alles wohlgetan, andernfalls vollbringst du weder dies noch das!” Was man zuerst begonnen hat, sollte man, ehe man etwas Neues anfängt, zu Ende gebracht haben. Bevor man etwas anfangt, sollte man sorgfältige Untersuchungen anstellen und sich anschliel3end entscheiden, ob man es beginnt oder nicht. Eine Arbeit, ehe sie vollendet ist, abzubrechen, wenn man sich erst einmal entschlossen hat, sie zu beginnen, wird nicht als besonders intelligent angesehen. Dies erwähne ich nur vorbeugend und am Rande, da es sein könnte, daß der eine oder andere die Studien etwas leid ist. Die meisten unter Ihnen lernen sicherlich fleißig, aber unter so vielen Teilnehmern mag ja auch der eine oder andere etwas müde geworden sein. Das ist zumindest nicht auszuschließen, und falls es so jemanden unter Ihnen gibt, hoffe ich, daß Ihnen dieser Rat weiterhilft. Die Mitglieder unter Ihnen möchte ich bitten, zur nächsten Jahreshauptversammlung am 1. April möglichst zahlreich zu erscheinen. Die Versammlung findet, wie der Name schon sagt, nur einmal im Jahr statt, und für die Zentrumsbewohner ist es sicherlich sehr ermutigend, wemr die Mitglieder Ihr Interesse am Zentrum einmal im Jahr durch die Teilnahme an dieser Versammlung bekunden. Das wird ihnen neuen Auftrieb geben. Mit dem Jahreswechsel treten wir in das letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ein und so wünsche und bete ich insbesondere für dieses Jahr 1990, daß es für Sie ein gesundes und frohes Jahr sein möge, und verbleibe.
Schwerpunkt-Thema: Buddhismus und Natur