Editorial von Birgit Stratmann
LIEBE LESERINNEN UND LESER,
als Geshe Thubten Ngawang am 5. Mai 1979 in Hamburg eintraf, dachte er, es sei nur für ein paar Monate. Glücklicherweise sind nun schon 20 Jahre daraus geworden. Die Mitglieder des Tibetischen Zentrums feierten am 8. Mai 1999 das 20-jährige Jubiläum ihres geistlichen Leiters in Hamburg, und so widmen wir einen großen Teil dieser Nummer von Tibet und Buddhismus unserem Lehrer. Zu Beginn lesen Sie eine Unterweisung, „Die Vergegenwärtigung des Atems“, die er in seiner Anfangszeit in Hamburg gab.
Geshe Thubten Ngawang hat in zwei Jahrzehnten Pionierarbeit für den Buddhismus im Deutschland geleistet. Durch sein Wirken hat er die geistige Wüste urbar gemacht, die sich in vielen suchenden Menschen ausbreitete. 20 Jahre widmete Geshe-la dem Aufbau des Tibetischen Zentrums mit all den Möglichkeiten für die Dharma-Praxis, die für uns heute so selbstverständlich sind. Damit legte er uns die Früchte seiner 30- jährigen Ausbildung in den Schoß. Geshe Thubten Ngawang veröffentlicht in dieser Zeitschrift erstmals in deutscher Sprache eine kurze Autobiographie, die er für ein 1995 an der Universität Sorbonne erschienenes Buch zusammengestellt hat.
Sein größtes Geschenk an uns ist seine Präsenz: Er ist einer der wenigen buddhistischen Lehrer in Deutschland, die kontinuierlich an einem Ort leben und unterrichten, einer der wenigen Meister, die immer für die Gemeinschaft da sind und den Dharma lehren – in den Unterweisungen und vor allem auch im Alltag. Er schuf kein buddhistisches Eiland, sondern wirkte in die Gesellschaft hinein, förderte den Dialog mit den Weltreligionen und anderen gesellschaftlichen Gruppen. „Das Gesicht Hamburgs ist freundlicher geworden, seit Geshe Thubten Ngawang in Hamburg ist“, beschrieb Prof. Dr. Weiße von der Universität Hamburg in seiner Rede auf der Jubiläumsfeier, wie Geshe-las Arbeit außerhalb der buddhistischen Gemeinschaft wahrgenommen wird. Lesen Sie mehr über die Jubiläumsfeier im Bericht von Brita Janssen auf Seite 37.
Für die Gemeinschaft des Tibetischen Zentrums bedeutet die Anwesenheit des Geshe noch weit mehr: Denn der Lehrer ist die Dharmaquelle, aus der alle schöpfen. Jene, die ihr Vertrauen in ihn setzen, leitet er an, das Glück in sich selbst zu finden, zu entfalten und mit anderen zu teilen – und dies nicht nur in dem begrenzten Zeitabschnitt dieses Lebens, sondern darüber hinaus. Was aber stellen wir mit diesem Glück an, und wie danken wir unserem buddhistischen Lehrer für seine Güte? Lobeshymnen und Verehrung allein reichen nicht aus. Der Lama ist keine Ikone, die man anbetet, sondern ein Wegweiser, ein Türöffner zum eigenen Herzen, zu Mitgefühl und Weisheit in uns selbst. Der Prüfstein ist das tägliche Leben, unser eigenes Befinden und unser Zusammenleben mit anderen. Dharma bewirkt, daß wir uns mehr der Wirklichkeit annähern und dadurch gelassener und innerlich freier werden. Wenn sich das Verhältnis zu anderen spürbar verbessert und sich mehr von dem Frieden, dem Verständnis und der Liebe überträgt, die der Meister verkörpert und für die wir ihn verehren, ist die Beziehung zum Lehrer fruchtbar geworden.
Einen geistigen Lehrer zu haben, bedeutet nicht allein Glück, sondern auch Arbeit, vor allem an sich selbst. Es verlangt, daß wir uns wirklich verändern. Es verlangt, daß wir zu verstehen versuchen, wo wir mit unserem Latein am Ende sind, daß wir aufeinander zugehen, wo wir das Weite suchen. Je mehr wir uns auf den Lehrer stützen, um so mehr innere Grenzen und Unzulänglichkeiten werden offenbar. Und das ist gut so, denn sie sind das Material des spirituellen Weges. Dharma-Praxis findet nicht in höheren Sphären statt, sondern im Hier und Jetzt. So gilt unser größter Dank an Geshe Thubten Ngawang, daß er uns, sofern wir uns darauf einlassen, an unsere Grenzen führt, aber auch Wege weist, wie wir sie mit Hilfe des Dharma erweitern und sogar überschreiten können – als einzelne Menschen, aber auch als Gemeinschaft, als Tibetisches Zentrum.
Das Tibetische Zentrum, so legt es Geshe Thubten Ngawang in dem Interview dar, hat gewichtige Aufgaben. Nichts geringeres erwartet er von seinen Schülerinnen und Schülern, als einen Beitrag zur authentischen Überlieferung des Buddha-Dharma zu leisten – und zwar nicht in der Theorie, sondern in der Praxis: „Für die Entwicklung der buddhistischen Lehre reicht es nicht, daß man irgendetwas daherreden kann. Die innere Verwirklichung muß hinzukommen.“
Tibets reiche buddhistische Religion überlebt heute fast nur noch im Exil, so sagte es der Dalai Lama vor einiger Zeit in Südindien. Wir sind auf Geshe Thubten Ngawang getroffen, der vor 40 Jahren aus seinem Heimatland fliehen mußte. Diejenigen, die ihn als ihren Lehrer ansehen, tragen damit einen Teil der Verantwortung für den Buddhismus mit, so die Quintessenz aus dem Interview. Wenn wir Freizeitbuddhisten bleiben und den Dharma nicht mit ganzem Herzen praktizieren, wird er im Westen nicht gedeihen. Und damit auch nicht das Glück, das der Dharma gewährt.
Schwerpunkt-Thema: Geshe Thubten Ngawang 20 Jahre in Hamburg