Editorial von Birgit Stratmann
Liebe Leserinnen und Leser,
das vielschichtige Thema Erleuchtungsgeist beschäftigt uns auch noch in dieser Ausgabe. Lesen Sie in der Unterweisung von Geshe Thubten Ngawang Erläuterungen darüber, wie das altruistische Streben nach der Erleuchtung in der Meditation entwickelt wird. Die hier dargelegte, traditionelle Mahåyåna-Methode beruht darauf, ein Gefühl der Nähe zu allen Lebewesen zu entwickeln. Denn nur, wenn wir uns mit den anderen verbunden fühlen, wird es gelingen, Verantwortung für sie zu übernehmen.
In der Meditation führt sich der Übende vor Augen, dass alle Wesen in den unzähligen vergangenen Existenzen schon einmal die eigenen Mütter waren. Dieser Zusammenhang ergibt sich aus der Natur des Geistes, der ein endloser Strom einzelner Momente von Klarheit und Erkenntnis ist. Da der Geist keinen Anfang und kein Ende hat, verbindet er sich aufgrund karmischer Kräfte unfreiwillig immer wieder mit einem neuen Körper und durchlebt so eine endlose Kette von Wiedergeburten. In den zahllosen Existenzen sind sich die Wesen immer wieder begegnet.
Im Westen ist uns weder der Glaube an Karma und Wiedergeburt noch die Einsicht in die Natur des Geistes in die Wiege gelegt. Darüber hinaus quälen sich nicht wenige Menschen mit schwierigen Beziehungen zu ihren Eltern, insbesondere auch zu ihrer Mutter. Oliver Petersen geht in seinem Artikel „Kindheitstraumata und die Güte der Mütter” diesen Schwierigkeiten auf den Grund und entwickelt Vorschläge, wie und unter welchen Voraussetzungen die Meditation über die Güte der Mütter von westlichen Schülern dennoch geübt werden kann.
Das Ziel, die Buddhaschaft zum Wohle aller Lebewesen zu entwickeln, ist sehr ambitiös. Einige empfinden die damit verbundene Verantwortung als eine drückende Last. Andere wiederum haben idealisierte Vorstellungen darüber, wie sie das Bodhisattva-Ideal in ihren Alltag integrieren können, was zu Frustration und Unzufriedenheit führen kann. Die langjährige Buddhistin und erfahrene Psychotherapeutin Eva-Maria Koch beleuchtet in ihrem inspirierenden Artikel „Ich helfe, also bin ich – die Kunst des tätigen Mitgefühls” nicht stimmige Formen des Helfens vom „Helfersyndron” bis hin zum „Burn-out”. Gleichzeitig ermutigt sie nicht nur zu einem klugen Altruismus, sondern in Anlehnung an den Dalai Lama auch zu einem „klugen Egoismus”, also einem Verhalten, das der persönlichen Entwicklungsstufe entspricht und die eigenen Bedürfnisse achtet.
Ein Aspekt, Verantwortung für andere zu übernehmen, ist das politische Engagement. Dr. Martin Kalff hat das Spannungsverhältnis zwischen Dharma und Politik mit Blick auf die verschiedenen Richtungen des Buddhismus recherchiert: den Theravåda und das Mahåyåna unter besonderer Berücksichtigung des Tantra. Der Buddha ließ danach verschiedene Wege gelten, das Spannungsverhältnis aufzulösen. Der völlige Rückzug aus der Gesellschaft, um in der Meditation die persönliche Leidfreiheit zu erreichen, ist eine Möglichkeit; die Hinwendung zu den leidenden Wesen und das Übernehmen von Verantwortung für sie eine andere.
S.H. der Dalai Lama hat hier eine eindeutige Position: Gerade in einer globalisierten, vernetzten Welt, so eine seiner Kernaussagen, ist es von großer Bedeutung, Spiritualität mit gesellschaftlichem Engagement zu verbinden: „Wir müssen alle lernen, universelle Verantwortung für die Weltfamilie zu übernehmen, sie zu schützen und zu hegen, ihre schwächeren Mitglieder zu unterstützen und die Umwelt, in der wir leben, zu bewahren.”
Schwerpunkt-Thema: Der Erleuchtungsgeist