Editorial von Birgit Stratmann
Liebe Leserinnen und Leser,
wer erklärt uns, was die Welt im Innersten Zusammenhalt? Sind es die Wissenschaften, denen wir als moderne Menschen heute fast blind vertrauen? Oder die Religionen, die scheinbar auf alles eine Antwort haben? Klar ist: Keiner kann für sich allein die komplexe Welt erklären. Vertreter aus den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen müssen sich austauschen, ihre Erkenntnisse überdenken und bereit sein, sie zu revidieren, wenn es der Wahrheitsfindung dient. Einmischung seitens der Religionen ist gefragt. Wissenschaftliche Ergebnisse, etwa der Hirnforschung, berühren die ethischen Grundlagen und auch philosophische Dimensionen. Mit diesem Heft mochten wir einen Beitrag zu einem offenen Dialog von Religion und Wissenschaft leisten.
Seit die Neurowissenschaften in der Lage sind, das Gehirn im Kernspintomographen zu untersuchen, schlagen Diskussionen um die Natur des Menschen, Gehirn und Bewusstsein, freien Willen und Mündigkeit hohe Wellen. Oliver Petersen greift einige Punkte dieser spannenden Debatten auf und skizziert in seinem Artikel Unterschiede und Übereinstimmungen zwischen Hirnforschung und Buddhismus. Die zentrale Frage, die uns auch in Zukunft beschäftigen wird, lautet: Was ist Bewusstsein?
Die Mind and Life-Konferenzen, eine Tradition, die S.H. der Dalai Lama in den 80er Jahren maßgeblich mitgegründet hat, bilden eine einzigartige Plattform für den Austausch kontemplativer Traditionen mit der Wissenschaft. Rob Roeser vom Mind and Life Institute gibt einen Überblick über die wissenschaftliche Erforschung der Meditation. Obwohl auf diesem Gebiet viel in Bewegung ist, scheint gesichert zu sein, dass die Schulung des Geistes Muster im Gehirn positiv verändert und das Immunsystem stärkt.
Wohl kaum ein Wissenschaftsgebiet hat eine so große Nähe zur buddhistischen Philosophie wie die Quantenphysik, denn sie hat die scharfe Trennung in Subjekt und Objekt der klassischen Physik aufgehoben und spricht stattdessen von „Potenzialität“ und Beziehungen. Aus Sicht des Dalai Lama „nähert sich die Wissenschaft damit den kontemplativen Einsichten des Buddhismus über Leerheit und Verbundenheit.“ (Die Welt in einem Atom, Berlin 2005)
Ich hatte das große Gluck, ein Interview mit dem berühmten Kernphysiker Hans-Peter Dürr fuhren zu dürfen. Dürr, der dieses Jahr seinen 80. Geburtstag feiert und immer noch auf der ganzen Welt Vortrage halt, studierte bei Edward Teller und Werner Heisenberg. Trotz seines naturwissenschaftlichen Hintergrunds hatte ich das Gefühl, einem großen Mystiker zu begegnen. Lesen Sie das bewegende Gespräch ab Seite 28. Besonders beeindruckt hat mich der ganzheitliche Ansatz Dürrs, der auf seiner tiefen Einsicht in die Wirklichkeit beruht: „Ich erlebe nichts, was um mich herum ist, als abgetrennt von mir.“ Und: „Da unser Leben auf Kooperation beruht, müssen wir Lebensstile entwickeln, um die Lebens Biosphäre zu schützen.“
In diesem Punkt kann der Buddhismus viel von der modernen Wissenschaft lernen: Wer das Abhangige Entstehen, das der Buddha lehrte, zu Ende denkt, wird sich ganz naturlich fur den Schutz der Lebensgrundlagen einsetzen. Denn wir sind untrennbar mit der Welt verflochten. Wer fur die Erde und ihre Bewohner sorgt, schutzt damit auch sich selbst und sichert sein eigenes Uberleben.
Themen: Neues Buddhismus-Studium im Tibetischen Zentrum/ Wissenschaft und Buddhismus/ Geschichte des Buddhismus in China