Editorial von Birgit Stratmann
Liebe Leserinnen und Leser,
allen Unkenrufen zum Trotz ist der Buddhismus im Westen keine Modeerscheinung, sondern eine Weisheitstradition, die Wurzeln geschlagen hat. So gibt es mittlerweile Zentren, die seit Jahrzehnten den Buddha-Dharma in seinen verschiedenen Ausprägungen hierher überliefern, und Studierende und Praktizierende, die tiefere Erfahrungen machen.
Einer von ihnen ist der buddhistische Mönch Matthieu Ricard, der wie kaum ein anderer die Integration des Dharma in westliches Denken und Fühlen verkörpert. Der frühere Wissenschaftler des Institut Pasteur in Paris hat maßgeblich dazu beigetragen, eine Brücke zwischen West und Ost zu schlagen, etwa durch seine Zusammenarbeit mit Neurowissenschaftlern. In seinem Artikel „Neurowissenschaft und Meditation“ (S.6) schildert Ricard, welche Ergebnisse die Erforschung des Gehirns von Meditierenden zutage förderte: Meditation verändert das Gehirn. Lesen Sie auch das Interview mit Matthieu Ricard, in dem er die Bedeutung der Meditation für sein eigenes Leben schildert (S.11).
Der Buddhismus-Lehrer Christof Spitz skizziert in seinem Beitrag (S.18) Problemfelder, die sich in der Begegnung buddhistischer Tradition und westlicher Moderne auftun. Der Buddhismus trifft hier nicht auf ein kulturelles Vakuum. Die Herausforderung besteht darin, den Kern des Buddhismus herauszuschälen und in die westliche Kultur zu verpflanzen.
Christof Spitz, Carola Roloff und Oliver Petersen, die im April 2010 ihr 30-jähriges Jubiläum im Tibetischen Zentrum feiern, haben Pionierarbeit bei der Übertragung des Buddhismus in den Westen geleistet. Im Interview (ab S. 26) ziehen sie eine Bilanz und diskutieren über Erfolge, verpasste Chancen und Zukunftsperspektiven, etwa was die Ausbildung westlicher Buddhismus-Lehrerinnen und – Lehrer oder die Rolle der Frau im Buddhismus betrifft. Lesen Sie speziell zum Thema „Frauen, Männer und Buddhismus“ den anregenden Artikel von Sylvia Wetzel (S.22), in dem sie dazu auffordert, patriarchische Strukturen zu erkennen und zu hinterfragen.
Eine wichtige Frage für jeden Praktizierenden erörtert der psychologischer Berater und Dharmalehrer Martin Kalff: Ist der Buddhismus in der westlichen Psyche angekommen? Haben wir den Dharma integriert oder nur „die Armut der eigenen Seele mit den Prachtgewändern indischer Weisheit“ überdeckt, wie C.G. Jung es formulierte? Martin Kalff gibt Anregungen zur Selbsterforschung (S.31) und spricht auch über Gefahren, etwa von Projektionen oder der Unterdrückung menschlicher Regungen, um hehren Idealen zu genügen.
Wir sind glücklich, Ihnen mitteilen zu können, dass mit dem Bau von sechs Klausurplätzen auf dem Gelände des Meditationshauses Semkye Ling begonnen wurde (s. auch Tibet und Buddhismus, Heft 92). Großzügige Spenden und Darlehen aus dem Kreis der Mitglieder und Freunde des Tibetischen Zentrums machen dieses wichtige Projekt möglich. Wir danken herzlich, auch im Namen unserer Lehrer, allen Unterstützern. Lesen Sie den Artikel zum aktuellen Stand des Projektes auf Seite 54. Eine inspirierende Lektüre
wünscht Ihnen
Birgit Stratmann
Themen: Interview mit Matthieu Ricard/ Buddhismus im Westen/ Meditation: Mit den Schatten der Erleuchtung arbeiten